Als Präsident Karzai, gerade ins Amt gekommen, am 13. Dezember 2001 in Kabul am Flughafen ankam, begleiteten ihn nur wenige Vertraute. Die wartenden Mujaheddin, allesamt kriegserfahren nach 20 Jahren Kampf gegen die Sowjetunion, gegeneinander und gegen die Taliban, fragten ihn, wo seine Männer seien. Daraufhin soll Karzai gesagt haben, « Ihr seid meine Männer! »
Es folgte ein Aufbauprozess, in dem aus den vielen Warlords und Milizenführern, den regionalen und religiösen Herrschern eine Gruppe werden sollte. Sie sollte in Afghanistan einen funktionierenden, modernen Staat aufbauen. Während die westlichen Staaten die Intervention als Neuanfang begriffen, war das Ende der Talibanherrschaft für die meisten afghanischen Akteure aber bestenfalls eine Zäsur.
Der Präsident ohne Männer war auf Machtverhältnisse zurückgeworfen, die weit in die Zeit vor der Intervention zurückreichten. Die gesellschaftlichen Verbindungen zwischen Mächtigen und der Bevölkerung verliefen entlang ethnischer Mobilisierungslinien, sie funktionierten nicht zuletzt durch gekaufte Loyalitäten auf Zeit, immer überlagert durch starkes Misstrauen zwischen den Akteuren. Der Staat als Instanz, der soziale Beziehungen regelt und gestaltet, war ein fremdes Wesen, mit dem die wenigsten positive Erfahrungen hatten. Meist war der Staat nur aufgetreten, um mit Gewalt Steuern zu erheben oder junge Männer für das Militär zu rekrutieren.
Der Staat ist ein Akteur unter vielen
Das einsetzende « Statebuilding » folgte einem westlichen Ideal von Staatlichkeit, nach dem der Staat die Regeln setzt. Nicht nur in Afghanistan, auch anderswo außerhalb der OECD-Welt ist diese Vorstellung eine Fiktion. Denn der Staat ist ein Akteur unter vielen. Zwar ist er international anerkannt und eingebunden, seine Legitimität – und damit sein Anspruch auf gesellschaftliche Unterstützung – unterscheidet sich jedoch häufig nicht wesentlich von der anderer Autoritäten im Land. Wo sie sogar noch darunter liegt, ist der Staat sogar nur ein politischer und ökonomischer Konkurrent wie jeder andere.
In der Geschichte Afghanistans gab es immer wieder Versuche, die Regelungsfähigkeit des Staates zu erweitern. Die meisten Herrscher versuchten dies über persönliche Beziehungen, aber auch mit Gewalt, also Zwangsumsiedlung und Geiselnahme der Söhne konkurrierender Mächtiger. Das blieb immer instabil, weil es an die Person, nicht an die Institution des Staates gebunden war. Diese Art von Loyalität zum Staat ist also kurzlebig und hängt an oft wirtschaftlichen Privilegien – zum Beispiel an den Importlizenzen im Handel zwischen Pakistan und Afghanistan. Die Transportsyndikate waren und sind deshalb wirtschaftlich außerordentlich mächtig. Und sie profitieren heute noch zusätzlich von der westlichen Intervention, für die sie den Transport von Treibstoff, Nachschub und militärischem Gerät übernehmen und dafür ordentlich abkassieren.
Wirtschaftliche Erfolge hängen in Afghanistan immer von guten äußeren Handelsbeziehungen ab. Eine Gruppe, die von ihren internationalen Verflechtungen am meisten profitiert, sind die Opiumhändler. Sie zahlen die üblichen Preise an die Hersteller, erzielen aber deutlich höhere Profite für Opium, wenn es über die Grenzen ausgeführt wird. Das Risiko, die Ware an den Grenzen zu verlieren, führt zu Preisaufschlägen, die bis zum Hundertfachen des Einkaufspreises gehen können. Ein Teil dieser Erlöse wird dann wieder in gute Beziehungen zu staatlichen Stellen investiert: Da wird die Grenzpolizei an den Erlösen beteiligt, da werden Informationen gekauft, um der Verfolgung zu entgehen. Zwar bekämpft der Staat die Drogenhändler, die mit den Aufständischen kooperieren und sie teilweise sogar finanzieren. Aber das macht diejenigen, die mit ihm zusammenarbeiten, nur umso stärker. Ob diese schließlich von einem mehr und mehr handlungs- und rechtssetzungsfähigen Staat verdrängt werden können oder ob sie den Staat ihrerseits in einen nur noch kriminellen Narcostaat verwandeln, für den der Drogenhandel zum Hauptdaseinszweck geworden sein mag – diese Frage muss offen bleiben.
Wegen dieser Verbindung staatlicher Stellen und der Drogenökonomie gilt Afghanistan im Westen deshalb als besonders korrupt – und Korruptionsbekämpfung seit einigen Jahren als letzter Schrei der Interventionspolitik. Allerdings übersieht diese sehr westliche Sicht, dass nur ein Regeln setzender Staat eine legale Grenze definieren kann, deren Übertretung dann als korrupt gilt; eine Voraussetzung, die in Afghanistan nicht in allen Bereichen gegeben ist. Für viele Menschen ist diese « Korruption » überdies eine Frage des Überlebens: Sie sind auf die Profite aus dem Opiumgeschäft angewiesen, und staatliche Ämter zu bekleiden kann ein sinnvoller Weg sein, sich ein Stück von diesem Kuchen zu sichern.
Vor allem die Eliten profitieren
Da dem Staat nicht nur die Macht fehlt, Regeln durchzusetzen, sondern ihm vor allem auch die Legitimität abgeht, solche Regeln durchgängig einzuführen, sind Staat und Kriminalität strukturell miteinander verwoben. Denn in Afghanistan profitieren auch und vor allem die staatlichen Eliten von Aufbaugeldern und ihrer Einbindung in die internationale politische Ökonomie, während die Mehrheit der Bevölkerung daran nicht beteiligt ist. Sie bekommt die Nachteile einer abgekoppelten Führungsschicht zu spüren.
Im Statebuilding-Projekt aber stehen die westlichen Interventen auf der Seite des Staates. Sie können versuchen, Einfluss auszuüben. Aber sie können « korrupt » erscheinende Praktiken nicht verhindern; und diese sind hinter der Fassade der Staatlichkeit eher die Regel als die Ausnahme. In den Augen der meisten afghanischen Bürger stützt das die Legitimität des Staates nicht – im Gegenteil: Die Intervention wird zu einem Teil des Problems des afghanischen Staates, nicht der Lösung.
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Florian P. Kühn ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Internationale Politik der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Gewalt und Terrorismus, Risiko und friedens- und sicherheitspolitische Themen mit regionalem Schwerpunkt Zentralasien. Zuletzt veröffentlichte er 2010 Sicherheit und Entwicklung in der Weltgesellschaft. Liberales Paradigma und Statebuilding in Afghanistan.
- Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Böll.Thema 3/2011: Grenzenlos Illegal – Transnationale organisierte Kriminalität auf Seite 20/21
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Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement
Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.